647 Räume

Heute bin ich eine große Runde durch die Stadt spaziert. Am Michel saß ich vor den Treppenstufen, wo vor zwei Jahren eine Frau erfroren ist und am nächsten Morgen tot aufgefunden wurde.

Ich laufe weiter in die Innenstadt am Rödingsmarkt vorbei. Hier ist jemand direkt unter der Brücke verstorben, entdeckt von Menschen auf dem Weg zur Arbeit.

Am Rathaus steige ich in die Bahn. Auf einer der Bänke schläft ein Mensch. Wie erschöpft jemand sein muss, wenn er bei den ständig einfahrenden Bahnen schlafen kann. Es ist ein gefährlicher Ort alleine.

Erst vor kurzem gab es wieder eine Meldung darüber, wie in Berlin ein Schlafsack angezündet worden ist, während jemand drinnen lag.

Das passiert immer wieder.

Draußen ist es nicht sicher. Schlafen auf eigene Gefahr sozusagen.

Ich fahre zum Stadtpark. Dort war ich schon lange nicht mehr. In meiner ersten Zeit draußen habe ich hier öfters übernachtet. Beim ersten Mal habe ich noch von einem Balkon, der leicht erreichbar war, die Decken geklaut und mich damit an dem Hang am See hingelegt. Es war eine harte Nacht, die ich nicht vergessen werde.

Auf dem Rückweg fahre ich die Strecke an den schönen Straßen vorbei. Hier ist die Gegend, die man scheinbar „heile Welt“ nennen kann. Aus dem Fenster betrachtet sieht es zumindest von außen so aus.

Ich war jung, als ich auf der Straße war. Ich konnte der Kälte immer entkommen, weil mein Körper stark genug war, um das durchzuhalten.

Bei mir war es der Kopf, der mich kaputt machte, wenn ich in der Nächten auf den Bürgersteigen durch kahle Äste in die beleuchteten Wohnungen geschaut habe. Die Lichter der Lampen strahlen Wärme und Geborgenheit aus. Meine Lichtquelle sind Straßenlaternen gewesen.

In diesen Augenblicken, wenn ich in ein fremdes Zuhause geschaut habe, wurde mir bewusst, wo ich war und das hat immer weh getan. Das war für mich meistens schwerer zu ertragen als die Kälte im Winter.

Am Ende leidet beides bei einem Leben auf der Straße: der Körper und der Geist. Überleben ist kein Leben.

Wie viel ist ein Menschenleben wert? Fakt ist, wir geben Menschen auf und überlassen ihnen sich selbst.

Da ist dieser eine Mann in der Schanze. Wer ab und zu dort ist, hat ihn bestimmt auch schon mal gesehen. Er ist schon solange in den Straßen unterwegs, wie ich denken kann. Ich habe ihn schon als kleinen Jungen gesehen und auf meinen ersten Streifzügen durch die Schanze in der Nacht. Er hat sehr oft getanzt, am liebsten zu Michael Jackson. Er gehört irgendwie schon so zu diesem Viertel und schlägt sich dort durch, dennoch muss die Frage lauten, wie über ein Jahrzehnt dieser Mensch einfach liegen gelassen wurde. Es scheint so, als würde ihm niemand richtig helfen.

Dabei spielt es keine Rolle aus welchem Grund. Es mag sein, dass man ihm bisher trotz verschiedener Versuche nicht richtig helfen konnte. Es kann auch sein, dass viele ihn bereits aufgeben und nicht mehr helfen wollen.

Für mich bedeutet das einfach nur, dass es immer noch nicht die richtige Lösung gibt für dieses Problem. Am besten wäre es, wenn alle Beteiligten in der Obdachlosenhilfe sich zusammenschließen und in einer großen Runde neue Wege finden, die Ursache anzugehen und im Großen die Gesamtsituation verändern.

So ein Vorschlag wurde nun vom Sozialausschuss der Bürgerschaft abgelehnt. Genau so wie die Anträge für mehr Hilfen für Obdachlose. Dafür gibt es in unserem Senat keine Mehrheit.

In den letzten sechs Monaten sind acht Menschen gestorben. Ich kann an so vielen Ecken eine Geschichte von jemanden erzählen. Es wird weitergehen und die Menschen, die daran beteiligt sind, stimmen solche Entscheidungen in einem Gebäude ab, das 647 Räume hat.

Es gibt auf allen Ebenen gute Menschen. In der Politik, in den Behörden und anderen Einrichtungen. Sich zumindest mit diesen Menschen zusammenzuschließen wäre ein Anfang. Das es nämlich auch anders geht und Menschen auf der Straße schnell und unbürokratisch geholfen werden kann zeigt das neueste Hotelprojekt von verschiedenen Organisationen wie StrassenBLUES, Hamburger Gabenzaun e.V. am Hauptbahnhof,  FC.ST Pauli, Hanseatic Help, JesusCenter, Leben im Abseits e. V., PFAND GEHÖRT DANEBEN, CaFée mit Herz e. V und GoBanyo. Seit Montag wurden bereits 15 Menschen in freie Hotelzimmer untergebracht. Die Aktion läuft und kann mit Spenden unterstützt werden um noch mehr Plätze schaffen zu können. Spendenkampagne von #hotelsforhomeless auf Betterplace

Autor: Dominik Bloh

Foto: Johannes Köhne